um 1900
Mein Weihnachten
Im Bürgertum des 19. Jahrhunderts spielten Besitz und Bildung eine tragende Rolle. Die modernen Städter entwickelten in den industrialisierten und säkularisierten Städten eine eigene Kultur und eigene Normen. In diesem Klima verlagerte sich das Weihnachtsfest von der Kirche in die Familie. Der Kirchgang mit dem Auftritt der Familie gehörte zwar zur Festtags-Dramaturgie, verlor aber inhaltlich zunehmend an Bedeutung.
Zum neuen Kern der Weihnachtsfeier wurde das Beschenken der Kinder sowie dann auch gegenseitiges Beschenken der Erwachsenen. Die Kinderbescherung erfolgte immer auch mit dem berüchtigten erhobenen Zeigefinger. Gehorsame Kinder sollten für ihr Betragen belohnt werden, während unartige Kinder nichts oder gar die Rute erhielten. Auch hier trat der ursprünglich christliche Sinngehalt der Geschenke in den Hintergrund.
Hochwertiges Spielzeug fanden die Kinder begüterter Eltern auf dem Gabentisch; Accessoires und Parfümerieartikel erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Damen. Pfeifen oder Zigarren, Lederwaren und Luxus-Schreibgeräte hatten die Herren häufig zu erwarten. Das Personal wurde mit Geldgeschenken beschert.
In die begüterten Haushalte zog nach und nach der Weihnachtsbaum ein. Sein Schmuck bestand nicht nur aus Plätzchen und vergoldeten Nüssen, sondern er erstrahlte zunehmend im Glanz von Lametta und leonischen Drähten, versilberten Glaskugeln und Engel-Oblaten.
Gaben & Geschenke
Wer feierte an diesem Tisch Weihnachten?
Kernfamilie: Kaufmann und Gattin, 2 Kinder
Konfession: katholisch
Angehörige: verwitwete Großmutter
Bedienstete: Gärtner/Kutscher,
Hausdame, Köchin,
Dienstmädchen, Lehrling
Der hier gezeigte Gabentisch würde zu einer wohlhabenden Kaufmanns-Familie passen.
Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Niedergang der in Heimarbeit ausgeführten Leinenweberei geprägt, die neben der Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle vieler Menschen bildete. Als 1845 bis 1850 die Kartoffelkrankheit auch die landwirtschaftlichen Erträge stark beeinträchtigte, kam es zur Verarmung weiter Bevölkerungskreise. Eine Folge war ein starkes Anwachsen der Auswanderung nach Amerika. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten trugen nicht unwesentlich zu den Unruhen des Jahres 1848 bei, es kam zu politischen Unruhen und einer rechtlichen „Neuorientierung“.
Unterstützt wurde die Industrialisierung durch die am 1. Oktober 1902 erfolgte Inbetriebnahme der Nordbahn, die die Region an das überregionale Verkehrsnetz anschloss. Diverse Fabriken folgten, Schwerpunkt blieb aber Textil.
Die positive wirtschaftliche Entwicklung ließ die Einwohnerzahlen, die während des 19. Jahrhunderts weitgehend stagniert hatten, wieder stark anwachsen
Unser wirtschaftlich erfolgreicher Kaufmann erinnert vielleicht eher an die Buddenbrooks (wenn auch natürlich nur in verminderter Form). Ein gesellschaftlicher Aufsteiger mit Attitüden – so zeigt auch der Tisch deutlich „Schaut her, was ich mit leisten kann.“ Die Lehrlinge hatten Familienanschluss und mussten auch im Privathaushalt oft Arbeiten erledigen!